Türkei lässt Übergewichtige öffentlich wiegen
In Kontrollen auf offener Straße lässt die türkische Regierung neuerdings ihre Bürger wiegen. Welche Konsequenzen bei Übergewicht drohen.
Die Zahl
der Übergewichtigen steigt in der Türkei schneller als in vielen anderen
Ländern
Dem will die
Regierung nun mit einer Kampagne entgegenwirken – und lässt die Bürger wiegen
Was bei
Übergewicht droht und was die Bürgerinnen und Bürger davon halten?
Es kann
überall und jederzeit passieren: So wie Autofahrer unerwartet in eine
Radarfalle geraten, tappen jetzt ahnungslose Passanten in der Türkei immer
häufiger in Kontrollen des türkischen Gesundheitsministeriums. Die Inspekteure
lauern auf Einkaufsstraßen und in Parks, an der Bushaltestelle, vor der
U-Bahn-Station oder am Eingang zum Fußballstadion. Sie winken Personen heran,
die ihnen übergewichtig erscheinen. Dann geht es auf die Waage.
Die
Körpergröße wird gemessen, das Alter erfragt. So stellen die Kontrolleure den
Body-Mass-Index (BMI) fest. Er berechnet sich aus dem Verhältnis des
Körpergewichts in Kilogramm und der Körpergröße in Metern zum Quadrat. Wer auf
einen BMI von 25 oder mehr kommt, wird zum nächsten Gesundheitsamt geschickt.
Dort bekommt er Hinweise zum Abnehmen.
Türkei
will gegen Übergewicht vorgehen: Zahlen sind alarmierend
Die Kampagne
mit dem Motto „Lerne Dein Gewicht kennen, lebe gesund“ begann am 10. Mai und
soll bis zum 10. Juli laufen. In diesem Zeitraum will das
Gesundheitsministerium in allen 81 Provinzen des Landes rund zehn Millionen
Menschen wiegen und messen. Das wäre jeder achte Einwohner.
Für die
Reihenuntersuchungen gibt es einen Grund. Die Türkei gehört nach Angaben der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu den Ländern mit der am schnellsten
wachsenden Zahl fettleibiger Menschen. Professor Mehmet Cindoruk, Präsident der
türkischen Gastroenterologischen Gesellschaft, beziffert ihren Anteil an der
Bevölkerung auf etwa 30 Prozent. Die WHO nennt sogar 32 Prozent. Das wäre fast
das Doppelte des EU-Durchschnitts, der bei 17 Prozent liegt. Als „normal
gewichtig“ gelten Menschen mit einem BMI von 18,5 bis 24,9. Bei 25 beginnt das
Übergewicht, bei 30 die Fettleibigkeit.
Die Prognose
für die Türkei sieht nicht gut aus. Die WHO erwartet, dass bis zum Jahr 2060
satte 94 Prozent der türkischen Bevölkerung übergewichtig oder fettleibig sein
werden, gegenüber 70 Prozent im Weltdurchschnitt. Umso wichtiger erscheint es,
frühzeitig zu dem Thema aufzuklären.
Obwohl es um
eine gute Sache geht, stößt die Kampagne in den sozialen Medien auf breite
Kritik. Manche mokieren sich darüber, dass viele Kontrolleure selbst sehr
korpulent erscheinen. Viele übergewichtige Menschen fühlen sich durch das
Wiegen in der Öffentlichkeit diskriminiert. Andere fürchten Konsequenzen, wenn
sie versuchen sollten, sich den Kontrollen zu entziehen.
Kontrolle
freiwillig? Bisher ist das noch nicht klar
Das
Gesundheitsministerium hat bisher nicht klar gesagt, ob die Teilnahme
freiwillig ist. Manche sehen in der Kampagne eine neue Zwangsmaßnahme der
Regierung Erdogan, die, Kritikern zufolge, ohnehin übergriffig ist. Unter der
Bevölkerung in den Großstädten verliert Erdogan massiv an Rückhalt. Vor allem
jüngere Menschen kritisieren, dass Erdogan zunehmend autokratisch regiert und
versucht, der Gesellschaft einen vom Islam bestimmten Lebensstil aufzuzwingen.
Die bekannte
Psychiatrie-Professorin Gökben Hizli Sayar berichtete in einem sozialen
Netzwerk, sie sei neulich am Üsküdar-Platz in eine Gewichtskontrolle geraten.
Nach einigem Hin und Her hätten die Kontrolleure sie gehen lassen, so Sayar.
Sie sei dann anderen Passanten entgegengegangen, um sie vor dem Kontrollposten
zu warnen, so wie man als Autofahrer Entgegenkommende mit der Lichthupe vor
einem Blitzer warnt. „Wir Dicken müssen solidarisch sein“, postete die
50-Jährige.
Trotz
Armut: Türkische Bevölkerung nimmt immer weiter zu
Dass trotz
wachsender Armut in der Türkei immer mehr Menschen übergewichtig werden, ist
kein Widerspruch. Wissenschaftler führen das auf einen Mangel an Bewegung und
ungesunde Ernährung zurück. Viele Menschen können sich nur noch minderwertiges
Fast Food leisten. Die Inflation liegt bei knapp 40 Prozent. Vor allem
Lebensmittel haben sich in den vergangenen Jahren stark verteuert.
Auch
Gesundheitsminister Kemal Memisoglu hat sich bereits öffentlich wiegen lassen.
Dabei stellte sich heraus, dass er beim BMI den Grenzwert von 24,9 nicht
einhalten konnte. „Ich bin wohl etwas drüber“, sagte der Minister. Er will sich
jetzt eine Diät verordnen und mehr spazieren gehen.
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