Muskeln als Medizin
Unsere Gesellschaft altert rapide. Die COVID-19-Pandemie hat Schwächen offengelegt, und Medikamente wie GLP-1 verändern die Diskussion über Gewicht. Doch ein Faktor steht zu selten im Fokus: die Muskulatur. Neue Studien zeigen, dass Muskelmasse weit mehr ist als ein Schönheitsideal – sie ist entscheidend für Stoffwechsel, Krankheitsverlauf und Lebensqualität im Alter.
Die
Muskeln – oft unterschätzt, wenig beachtet
Wenn man
über Gesundheit spricht, denken die meisten an Herz, Lunge oder Nieren. Doch
das größte Organ des Körpers ist die Skelettmuskulatur. Sie macht 30 bis 50%
der Körpermasse aus.
Muskeln sind
nicht nur Bewegungsmaschinen, sondern echte Stoffwechselzentralen. Sie steuern
den Blutzucker, beeinflussen Hormone, produzieren entzündungshemmende
Botenstoffe und spielen eine Schlüsselrolle bei der Energieverbrennung.
Über 75% der
Glukoseaufnahme, die durch Insulin vermittelt wird, läuft über die Muskulatur.
Geht Muskelmasse verloren, steigt das Risiko für Typ-2-Diabetes und
Fettstoffwechselstörungen. Gleichzeitig beeinflusst Muskelmasse den Grundumsatz
– je weniger Muskel, desto niedriger der Kalorienverbrauch, desto leichter
nimmt man zu. Selbst kleine Unterschiede machen viel aus: 10 kg weniger
Muskelmasse bedeuten rund 100 Kalorien weniger Energieverbrauch pro Tag –
hochgerechnet über ein Jahr fast 5 kg zusätzliches Körperfett.
Wenn
Muskeln schwinden: Sarkopenie und ihre Folgen
Die
Muskelmasse erreicht ihr Maximum zwischen 20 und 40 Jahren, danach beginnt ein
kontinuierlicher Abbau: ab 40 Jahren im Schnitt 0,5% pro Jahr, nach 50 bereits
1 bis 2%, und ab 60 sogar 3%. Die Folgen sind dramatisch. Sarkopenie
(Muskelschwund) und Dynapenie (Kraftverlust) gelten heute als eigenständige
Krankheitsbilder. Sie tragen entscheidend zu Gebrechlichkeit, Stürzen und dem
Verlust von Selbstständigkeit im Alter bei.
Doch das
Problem betrifft längst nicht mehr nur Hochbetagte: Auch jüngere Menschen sind
zunehmend betroffen, wie Studien zeigen. Bewegungsmangel, Übergewicht und
ungesunde Ernährung beschleunigen den Abbau. Damit wächst die Gefahr, dass
Menschen schon früh an Belastbarkeit verlieren – mit Folgen für
Gesundheitssystem und Gesellschaft.
Muskelreserven
entscheiden über Heilungschancen
Muskelmasse
ist mehr als nur Kraft: Sie dient als Eiweißspeicher des Körpers. In Krisen –
sei es eine Operation, ein Unfall oder eine Infektion – werden Muskelproteine
abgebaut, um das Immunsystem und Reparaturprozesse zu versorgen. Wer wenig
Muskelreserven hat, hat deutlich schlechtere Chancen zu überleben oder wieder
gesund zu werden.
Studien
zeigen: Patienten
mit Krebs oder Lebererkrankungen und niedriger Muskelmasse haben kürzere
Überlebenszeiten. Und nach schweren Verbrennungen sterben am ehesten
diejenigen, die bereits wenig Muskelmasse mitbringen. Ältere Frauen, die sich
nach einem Sturz die Hüfte brechen, können in 50% der Fälle nie wieder normal
laufen – weil der Verlust an Muskelmasse die Rehabilitation verhindert.
„Man weiß
nie, wann ein Unfall oder eine Krankheit zuschlägt – aber wie viel Muskelmasse
man mitbringt, entscheidet maßgeblich darüber, ob man sich wieder erholt“, sagt
Robert Wolfe, Leiter des Reynolds Institute on Aging in Arkansas.
Muskeln
als Prävention: Warum frühes Handeln zählt
Die gute
Nachricht: Jeder kann etwas tun. „Wir alle verlieren Muskeln, aber nicht jeder
erreicht die kritische Schwelle, ab der es gefährlich wird“, erklärt die
Ernährungsforscherin Carla Prado. Ziel sei es, diesen Punkt durch Training und
Ernährung möglichst lange hinauszuschieben.
Krafttraining
ist dabei das Mittel der Wahl. Es sorgt nicht nur für mehr Muskelmasse, sondern
verbessert auch die Mitochondrienfunktion – die Kraftwerke der Zellen, deren
Abbau mit Alterung und chronischen Krankheiten in Verbindung gebracht wird.
Widerstandstraining bremst diesen Prozess, steigert die Energieproduktion und
reduziert oxidativen Stress.
Gleichzeitig stärkt Krafttraining die Knochen, beugt Osteoporose vor und senkt das Risiko von Brüchen. Besonders die belasteten Zonen wie Hüfte und Wirbelsäule profitieren.
Darüber
hinaus regulieren Muskeln über sogenannte Myokine entzündliche Prozesse. Diese
Botenstoffe wirken wie körpereigene Medikamente: Sie verbessern den
Fettstoffwechsel, schützen Herz und Gefäße und verringern das Risiko für
chronische Erkrankungen wie Arthritis, Herzinfarkt oder Alzheimer.
Kraft
schlägt Ausdauer – zumindest im Alter
Lange galt
Ausdauertraining als Goldstandard für die Gesundheit. Doch immer mehr Daten
zeigen, dass Krafttraining im Alter mindestens genauso wichtig ist – in manchen
Bereichen sogar überlegen. Eine Studie aus dem Jahr 2023 ergab, dass moderates
Krafttraining bei Herzpatienten sicherer ist als intensives Ausdauertraining.
„Widerstandstraining
ist eine der wichtigsten Interventionen, die man für die Gesundheit machen
kann“, sagt Brad Schoenfeld, Sportwissenschaftler in New York. „Es wirkt sich
auf fast jedes Organsystem positiv aus und schützt im Alter vor dem Verlust an
Selbstständigkeit.“
Der
Haken: Umsetzung im Alltag
So eindeutig
die Studienlage ist, so schwierig bleibt die Praxis. Viele Ärzte meiden das
Thema. In Umfragen gaben 84% an, sich im Bereich Krafttraining unzureichend
geschult zu fühlen. Nur 17% raten gezielt zu Bewegung.
Dabei
reichen einfache Maßnahmen: Griffkrafttests, Fragen zur körperlichen Aktivität
oder die Beobachtung der Gehfähigkeit liefern wertvolle Hinweise. Noch besser
wäre eine systematische Erfassung der Muskelmasse – etwa mit
Bioimpedanzmessungen oder DXA-Scans.
Doch
entscheidend ist, die Menschen überhaupt zum Training zu bringen. Weniger als
ein Viertel der US-Amerikaner erfüllt die Empfehlung von zwei
Krafttrainingseinheiten pro Woche.
Gute
Nachrichten: Es ist nie zu spät
Die Angst,
„zu alt“ für Muskelaufbau zu sein, ist unbegründet. Selbst 70-, 80- oder
90-Jährige profitieren deutlich, wie Studien zeigen. Schon nach 8 bis 12 Wochen
Training nahmen Kraft und Muskelmasse spürbar zu. Wichtig ist nur, die Übungen
so zu gestalten, dass sie fordernd sind – auch mit leichten Gewichten, solange
die letzten Wiederholungen anstrengend sind.
Dennoch
gilt: Früh anfangen
lohnt sich. „Es ist wie bei der Altersvorsorge“, sagt Schoenfeld. „Man kann
auch mit 50 noch anfangen zu sparen, aber wer mit 20 startet, hat im Alter
einfach mehr Reserven.“
Fazit:
Muskeln als Schlüssel zum gesunden Altern
Muskeln sind
weit mehr als ein Fitness-Accessoire. Sie sind Stoffwechselorgan,
Eiweißspeicher, Immunstärker, Knochenstütze und Garant für Selbstständigkeit.
Wer früh in seine Muskelgesundheit investiert, schützt sich vor Diabetes,
Osteoporose, Herzkrankheiten und Pflegebedürftigkeit.
Die
Herausforderung bleibt, dieses Wissen vom Forschungslabor in den Alltag zu
übertragen – in Arztpraxen, in Präventionsprogramme und in das Bewusstsein
jedes Einzelnen. Denn klar ist: Muskeln übernehmen zentrale Aufgaben im
Körper.
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