Muskelbotenstoffe: Wie Muskeln unseren Körper heilen

 

Wer Sport macht, aktiviert eine Geheimwaffe: Muskelbotenstoffe. Sie verjüngen das Gehirn, schmelzen Fett und stoppen Krebs. Wie viel Training es braucht, sie zu wecken.

Muskeln haben heilsame Kräfte. Sie zu trainieren, mindert das Risiko für Diabetes, Bluthochdruck oder Krebs, verbessert das Gedächtnis, verlängert das Leben. Nur warum eigentlich? In den vergangenen Jahrzehnten sind Forscherinnen und Forscher der Antwort darauf immer näher gekommen. Entscheidend dürften neu entdeckte, winzige Moleküle sein, von denen Abermillionen den Körper jung halten. Diese sogenannten Myokine, die die Muskeln abgeben, wann immer sie arbeiten, sind regelrechte Wundermittel. Sie rauschen durch das Blut zum Herz, ins Gehirn und ins Fettgewebe. Auch im Magen-Darm-Trakt oder der Haut entfalten sie ihre heilsame Wirkung. Wir zeichnen ihren Weg im Körper nach.

Steife Herzfasern werden hinausgeworfen

Im Herzen erhöhen Myokine die Kraft der Muskelzellen, sie binden an Bindegewebszellen und hindern sie daran, starre Fasern ins äußerst flexible Herzmuskelgewebe einzubauen. Das Herz wird so elastischer und kann kräftiger schlagen. Und das ist überlebenswichtig für das Organ, das ein ganzes Menschenleben hindurch nicht aufhören darf zu arbeiten: Für jeden Herzschlag füllt es sich mit Blut, dehnt sich, zieht sich wieder zusammen und pumpt dabei das Blut durch den ganzen Körper.

Hirnzellen vermehren und verbinden sich

Manche Myokine schaffen es bis ins Gehirn und lassen dort wohl neue Hirnzellen und Verknüpfungen sprießen. Neue Bahnen, entlang derer wir denken und lernen können. Auf Hirnscans sieht man, dass Regionen wie der Hippocampus, der für unser Gedächtnis eine herausragende Rolle spielt, messbar wachsen, wenn man regelmäßig Sport treibt. Auch dahinter stecken Myokine. Wie sie das schaffen? Forschende vermuten, sie könnten Hirnzellen dazu anregen, neuronale Wachstumsfaktoren auszuschütten. 

Je mehr Hirnzellen erhalten bleiben oder entstehen, je mehr Verknüpfungen sie ausbilden, desto größer ist der geistige Puffer im Alter, wenn Hirnzellen naturgemäß schwinden. So verlangsamt Sport den geistigen Abbau und kann neurodegenerativen Krankheiten wie einer Demenz vorbeugen.

Der Blutzuckerspiegel wird reguliert

Myokine sorgen dafür, dass Zellen im ganzen Körper Zucker aus dem Blut besser aufnehmen können, darunter Muskelzellen selbst. Speisen rutschen dank ihnen langsamer durch den Magen-Darm-Trakt. Nach dem Essen gelangt deshalb weniger Zucker auf einmal ins Blut, sogenannte Blutzuckerspitzen werden vermieden. Auf diese Weise schützen Myokine auch vor Diabetes.

Myokine docken sogar an Zellen in der Bauchspeicheldrüse und im Darm an. Beide schütten daraufhin GLP-1 aus. Ein Stoff, der das Hungergefühl bremst und den Blutzuckerspiegel stabilisiert. Viele kennen GLP-1 aus einem anderen Kontext: Die Abnehmspritzen Ozempic und Wegovy enthalten einen künstlichen Nachbau des Darmhormons. Auch wenn die Dosis der Spritzen natürlich viel höher ist: Sport zu treiben, die Muskeln zu bewegen, wirkt ähnlich wie solche Medikamente.

Was sind Myokine?

Als die Dänin Bente Klarlund Pedersen Anfang der Zweitausender das Blut von Marathonläufern untersuchte, fielen ihr bestimte Eiweißmoleküle auf. Weitere Forschung zeigte: Es handelt sich um Botenstoffe, die unsere Muskeln produzieren und die über die Blutbahn verschiedenste Prozesse im Körper steuern. 2003 gab Pedersen ihnen den Namen Myokine. Die Entdeckung führte zu einem völlig neuen Verständnis davon, wie Muskeln in körperliche Prozesse eingebunden sind und mit fernen Organen kommunizieren. Inzwischen sind rund 650  Myokine bekannt, ständig kommen neue dazu. Was genau sie im Körper tun, ist noch längst nicht vollständig verstanden.


Das Bauchfett schmilzt:

Die Muskelbotenstoffe sind überdies ein natürlicher Fettverbrenner. Sie docken an Zellen im viszeralen Fettgewebe – also im tief liegenden Bauchfett – an und lösen einzelne Fettsäuren aus dem Fettpolster heraus. So schmelzen die Polster dahin. Gleichzeitig aktivieren sie die Fettverbrennung im Muskel, wo die frei gewordenen Fettsäuren rasch verbraucht werden.

Tief liegendes Bauchfett ist für den Menschen besonders schädlich. Es ist hormonell aktiv, befördert Entzündungen im ganzen Körper und begünstigt viele Erkrankungen, darunter Diabetes und Bluthochdruck. Myokine verhindern diese schädlichen Effekte, indem sie das Fett schmelzen lassen. Sie mindern die Entzündungsaktivität im Körper und die damit einhergehenden Krankheitsrisiken. 

Forschende arbeiten gar an Medikamenten, etwa einem Antikörper, der das Muskelwachstum stimulieren und so viszerales Fett schmelzen lassen soll. Diese Mittel könnten einmal eine Alternative zu Ozempic und ähnlichen Mitteln gegen Adipositas sein. Der Vorteil: Betroffene würden vor allem Fett, nicht aber Muskelmasse verlieren.

Überschießende Immunreaktionen werden gestoppt:

Myokine wirken aber nicht nur langfristig antientzündlich, weil sie Bauchfett schmelzen lassen, sondern auch ganz akut, indem sie an Immunzellen andocken, die beeinflussen, wie das Immunsystem etwa auf Eindringlinge reagiert. Sie fördern dort die Ausschüttung von entzündungshemmenden Botenstoffen. 

Und das hat reale Folgen: In einem Experiment fanden Forschende heraus, dass Probanden, die vorher Sport gemacht haben, anders auf Bakterienbestandteile reagieren, die man ihnen spritzte. Ihr Immunsystem reagierte weniger stark und zielgerichteter. Gut möglich, dass Myokine helfen, überschießende Entzündungsreaktionen zu verhindern.

Anti Krebszellen werden zum Tumor gelotst

Myokine dienen anscheinend auch als Art Lotse für unser körpereigenes Einsatzkommando gegen Krebs. Sie scheinen nämlich spezielle Immunzellen, natürliche Killerzellen, direkt ins Tumorgewebe zu schleusen, wie Forschende in Zell- und Tierexperimenten herausgefunden haben. 

Dazu passt: Wer körperlich aktiv ist, hat ein geringeres Krebsrisiko. Und wer nach einer überstandenen Krebserkrankung körperlich aktiv wird, überlebt im Durchschnitt länger.

Die Knochen werden stark gemacht

Krafttraining und Bewegung verbessern die Knochengesundheit. Ein Hauptgrund: Das Ziehen der Muskeln und Gewichte an den Knochen aktiviert knochenbildende Zellen. Der Knochen wird dichter und stabiler. Im Alter verlangsamt sich deshalb der Abbau des Knochens, wenn man aktiv ist. 

Neben den mechanischen Kräften stecken wohl auch Muskelbotenstoffe hinter den positiven Knochenumbauten. Indem sie direkt an die knochenbildenden Zellen binden und sie aktivieren, gleichzeitig aber knochenabbauende Zellen hemmen.

Die Haut bleibt elastisch

War ja klar, oder? Myokine machen vielleicht sogar schöner. Sport wirkt besser als jede noch so teure Hautcreme. So gibt es Hinweise darauf, dass sie die Kollagenproduktion in der Haut steigern, was die Haut elastischer und widerstandsfähiger macht. Auch die Wundheilung unterstützen sie wohl.

Im Muskel werden Reparaturzellen geweckt

Einige Myokine wirken auch im Muskel selbst. Beim Training entstehen oft kleinste Risse und Schäden in den Muskelfasern, die repariert werden müssen – eine Ursache für Muskelkater. Entlang der Muskelfasern stehen dafür Reparaturtrupps bereit, die Satellitenzellen. Nur brauchen sie ein Signal, um aktiv zu werden. Myokine geben dieses Signal. 

Danach teilen sich die Satellitenzellen rasch auf, bilden neue Muskelzellen und flicken die Schäden in der Muskelfaser. Aber nicht nur das. Gleichzeitig regen sie Muskelzellen dazu an, mehr Eiweiße zu produzieren – wichtige Bausteine für das Muskelwachstum. Die Botenstoffe sind damit ein natürlicher Muskelwachstumsbooster.

Und wie viel Sport brauche ich dafür?

Myokine werden frei, sobald ein Muskel arbeitet. Nur wie viel Bewegung ist nötig, damit genügend dieses Wundermittels durch die Blutbahn rauschen? Und welcher Sport eignet sich dazu am besten?

Optimal ist laut den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation eine Mischung aus Kraft- und Ausdauersport. Die WHO empfiehlt pro Woche 150 Minuten Ausdauersport mit moderater Intensität oder 75 Minuten mit hoher Intensität. Das entspricht rund einer halben Stunde Bewegung an fünf Tagen in der Woche. Dazu sollten zwei Einheiten Krafttraining kommen. Denn eine Mischung aus Kraft- und Ausdauersport, das zeigen mehrere Studien, senkt Krankheitsrisiken am effektivsten.

Die gute Nachricht: Jede Bewegung zählt, und zwar messbar. Schon wenige Minuten intensiver Anstrengung am Tag können gesünder machen. Das fanden Forscher in einer Studie heraus. Dem Bus hinterherrennen, eine Treppe hoch spurten, ein paar Kniebeugen am Arbeitsplatz: Menschen, die kurze, aber heftige Aktivitäten in ihren Alltag einbauten, hatten demnach ein geringeres Risiko für Herzkreislauferkrankungen und Krebs.

Eine andere Arbeit zeigt: Menschen, die 4.000 Schritte am Tag zurücklegen, haben bereits ein geringeres Sterberisiko als Menschen, die sich gar nicht bewegen. Die Arbeit zeigt allerdings auch: je mehr Schritte, desto größer die gesundheitsfördernden Effekte.

Wer gerade erst mit dem Sportmachen anfängt, für den gilt: Am besten steckt man sich zunächst kleinere und erreichbare Ziele. Ein paar Übungen nach dem Aufstehen oder in der Mittagspause, mal mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren oder eine kleine Runde nach dem Feierabend drehen. Wichtig ist, die Übungen als Routine da in den Alltag zu integrieren, wo sie am besten passen. So kann aus einem anfangs lästigen Ritual eine gesunde Gewohnheit werden. 

Und wenn es darum geht, sich zum Sport aufzuraffen, hilft vielleicht ja auch der Gedanke an die Myokine, die bei jeder Bewegung freigesetzt werden, durch den Körper strömen und an unzähligen Orten ihre heilsamen Kräfte entfalten.

Du möchtest mehr zu diesem Thema erfahren dann buche eines meiner Webinare 

Zugrundeliegende Studien:

Wie Myokine im Körper wirken, ein Überblick: (Endocrine Reviews: Severinsen et Pedersen, 2020)

Wie Myokine auf das Gehirn wirken: (Nature reviews endocrinology: Bente Klarlund Pedersen, 2019)

Wie Myokine auf das Immunsystem wirken: (Frontiers in Physiology: Bay et Pedersen, 2020)

Wie Myokine auf das Herz wirken: (Nature communications: Szaroszyk et al., 2022)

Wie Myokine auf Stoffwechsel und Fettgewebe wirken: (Frontiers in Physiology: Leal et al., 2018)

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wie funktioniert das 6-12-25 Workout?

Entspannen wo andere Druck haben- das Urban Sports Dilemma