Wunderpille Krafttraining
Die positiven Auswirkungen des Krafttrainings werden immer deutlicher:
Es beugt
nicht nur Stürzen und Unfällen vor, sondern stärkt auch Kreislauf, Stoffwechsel
und Immunabwehr. Woran liegt das? Über die segensreiche Wirkung der Myokine.
Wer vor 30,
40 Jahren seine Muskeln im Fitnessstudio stählte, konnte sich vielleicht
mancher verstohlen anerkennender Blicke sicher sein, gleichzeitig hatte
Krafttraining seinerzeit einen eher schmuddeligen Ruf – angesiedelt irgendwo
zwischen Oberflächlichkeit und Halbwelt. Sportlern wurde das Training im Studio
selbstverständlich zugestanden, ansonsten galt jedoch die ebenso leibfeindliche
wie arrogante Gleichung: dicke Muskeln, dünner Verstand.
Diese Einstellung hat sich schon lange geändert. Fitnessstudios verzeichnen von Jahr zu Jahr neue Rekorde. Ende der 1980er-Jahre besuchten nur etwa 1,5 Millionen Menschen in Deutschland regelmäßig ein „Gym“, mittlerweile verzeichnen die Studios fast zwölf Millionen Mitglieder. Millionen weitere ertüchtigen sich gelegentlich an den Geräten. Zunehmend sieht man auch, wie sich ältere Jahrgänge an Hanteln, Beinpresse und Crosstrainer abmühen. Es hat sich herumgesprochen, dass Krafttraining die Koordination schult und damit auch das Risiko für Stürze und Verletzungen verringert. Damit nicht genug: In jüngster Zeit werden die positiven Auswirkungen einer trainierten Muskulatur auf Herz und Kreislauf, den Stoffwechsel und andere Organe immer deutlicher.
Zurückzuführen
sind die nützlichen Effekte vor allem auf spezifische Botenstoffe, die durch
vermehrte Muskelaktivität freigesetzt werden, die Myokine. Im Jahr 2007 wurden
sie erstmals als funktionale Gruppe von der dänischen Infektionsexpertin Bente
Klarlund Pedersen und dem australischen Physiologen Mark Febbraio beschrieben.
„Myokine wirken ähnlich wie Hormone“, sagt Karsten Köhler, Sportwissenschaftler
an der Technischen Universität München. „Das heißt, sie gelangen über den
Blutkreislauf und die Gewebeflüssigkeit zu den anderen Organen des Körpers und
können an spezifische Rezeptoren binden und dort Reaktionen hervorrufen.“
Bekannte Myokine sind Interleukin-6, welches pro- und anti-inflammatorische
Effekte hat, also Entzündungen moduliert, oder auch Irisin, welches das
Fettgewebe „braun“ und damit weniger stoffwechselgefährlich werden lässt.
Krafttraining
verbessert auch die Zuckerkontrolle
„Skelettmuskeln
sind nicht nur einfach zum Kontrahieren da, sondern sie fungieren zudem als
endokrines Organ“, sagt Peter Düking, Sportwissenschaftler von der Technischen
Universität Braunschweig. „Sie können eine Vielzahl von Myokinen produzieren –
schätzungsweise mehr als 600 – und diese ermöglichen die ,Kommunikation‘
zwischen Muskeln und Organen wie dem Gehirn, der Leber, den Knochen und dem
Fettgewebe.“
Myokine haben etliche Funktionen. Sie können Substanzen stimulieren, die den Organismus vor Krebs schützen. Andere Stoffe dieser Klasse wirken sich günstig auf den Kreislauf, die Gefäßelastizität und den Knochenstoffwechsel aus oder regen die Produktion von Wachstumsfaktoren an. „Durch körperliches Training werden zahlreiche Signal-Moleküle freigesetzt“, sagt Philipp Zimmer vom Institut für Sportwissenschaft der Technischen Universität Dortmund. Das beziehe sich aber längst nicht nur auf die Muskulatur allein. „Auch andere Organsysteme reagieren auf sportliche Reize und fahren Botenstoffe hoch oder runter, die ihrerseits beispielsweise Einfluss auf das Immunsystem nehmen.“
Die
günstigen Auswirkungen von Muskeltraining auf den Stoffwechsel zeigen sich in
diversen Bereichen, etwa der Verarbeitung von Zuckermolekülen und der
Regulation des Blutzuckers. „Krafttraining erhöht nicht nur die Muskelmasse und
die Kraft, sondern verbessert auch die glykämische Kontrolle, es steigert die
Glukoseaufnahme und erhöht die Insulinsensitivität“, sagt Sportwissenschaftler
Düking. „Das führt zu günstigen metabolischen Anpassungen sowohl bei Gesunden
als auch bei Menschen mit Diabetes.“
Henning
Wackerhage, der an der TU München das Forschungsprojekt „HyperMet“ zu den
Stoffwechseleffekten von Muskelaufbau und -abbau leitet, drückt es so aus:
„Fett geht verloren und der Blutzuckerspiegel verbessert sich.“ Ein Anstieg der
Muskelmasse zwischen zwei und drei Prozent geht nicht nur mit einer
Verminderung der Fettmasse um vier bis sechs Prozent einher, sondern hat auch
den günstigen Nebeneffekt, dass der Blutzucker im nüchternen Zustand um sechs
bis sieben Prozent sinkt. Das wurde in einer Übersichtsarbeit gezeigt.
„Insofern beugt der Muskelaufbau klinisch relevant gegen Diabetes wie auch
gegen Übergewicht vor“, sagt Peter Düking. Bei so vielen positiven Auswirkungen
auf die Gesundheit ist die Empfehlung klar. „Ich habe meinen Eltern, die inzwischen
Oma und Opa sind, auch gesagt: Geht pumpen!“, ergänzt Düking.
Auch der Immunabwehr tut regelmäßige Bewegung offenbar gut. Dazu tragen verschiedene Mechanismen bei: Sport erhöht die Aktivität von körpereigenen Killerzellen und setzt Interleukine – Botenstoffe des Immunsystems – frei. Beides hilft in der Abwehr von Bakterien und Viren und wirkt Entzündungen entgegen. „Mit Blick auf das Immunsystem scheint Ausdauertraining jedoch der potentere Reiz im Vergleich zum Krafttraining zu sein“, sagt Philipp Zimmer. „Gleichwohl werden aber auch durch Krafttraining Signalmoleküle freigesetzt.“ Inwieweit regelmäßiges Krafttraining vor Infekten schützt, sei allerdings noch unzureichend geklärt und hänge natürlich auch vom Erreger und der Wucht der mikrobiellen Attacke ab. „Dass Muskeltraining eine Erkältung verhindert, wäre eine Überinterpretation“, sagt Wackerhage.
Belastung
aktiviert das Immunsystem
„Die bisher noch dünne, epidemiologische Datenlage weist darauf hin, dass körperlich aktive Menschen ein leicht vermindertes Risiko für Infektionen der oberen Atemwege haben“, so Zimmer. „Zudem ist sowohl die Dauer als auch der Schweregrad von klassischen Beschwerden bei aktiven Menschen kürzer und milder und bei Corona war auch die Sterblichkeit deutlich reduziert.“ Ferner gebe es erste Hinweise dafür, dass sich bei manchen Impfungen der Impfschutz durch körperliches Training verbessert.
Über den
Einfluss von Kraftsport auf das akute Infektionsrisiko ist noch wenig bekannt.
Früher nahmen Mediziner an, dass nach intensiven oder langen Belastungen vor
allem im Ausdauerbereich das Immunsystem eine Weile unterdrückt ist und die
Sportler anfälliger waren. Schließlich ließ sich beobachten, dass
leistungsstarke Sportler nach intensivem Training und Wettkampf ein leicht
erhöhtes Risiko für Infekte der oberen Atemwege hatten. „Es ist allerdings
nicht belegt, dass dies mit einer Unterdrückung des Immunsystems in Verbindung
steht“, so Philipp Zimmer. „Im Gegenteil, man ist sich mittlerweile sicher,
dass das Immunsystem durch akute Belastungen in Alarmbereitschaft versetzt
wird.“ Demnach wäre die Abwehr sogar etwas besser gewappnet, nachdem sich ein Mensch
stark verausgabt hat. Auch für Krafttraining gibt es keinerlei Hinweise, dass
dadurch das akute Infektrisiko steigen würde – tendenziell gilt eher das
Gegenteil.
Trotz der
zahlreichen Indizien für den Nutzen körperlicher Aktivität für Kreislauf,
Stoffwechsel und Immunabwehr „heißt das aber nicht, dass man Sport treiben
sollte, wenn man krank ist, um gesund zu werden“, so Düking. „Bei Infekten und
anderen Leiden sollte man auch weiterhin vorsichtig sein, da Sport während
einer Krankheit diverse negative Effekte haben kann.“ Eltern, die darauf
pochen, dass ihre Kinder erst ein, zwei Tage – oder je nach Schwere der
Infektion sogar länger – fieberfrei sein müssen, bevor sie wieder am Sport
teilnehmen können, haben es schon immer geahnt.

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