Selbst mit 50 ist noch Muskelaufbau möglich
Im Laufe des Lebens verliert der Mensch beständig Muskelmasse. Dieser für die Gesundheit gefährliche Prozess beginnt viel früher als erwartet. Experten erklären, wie Sie dieser Entwicklung optimal entgegenwirken.
Treppensteigen fällt schwerer, das Aufstehen vom Stuhl kostet mehr Kraft, ein Schraubglas lässt sich nicht mehr so leicht öffnen. Viele denken: ganz normal, das kommt mit dem Alter. Doch tatsächlich steckt dahinter das Phänomen der Sarkopenie – der schleichende Verlust von Muskelkraft. Das Problem: Dieser setzt viel früher ein, als wir häufig glauben.
„Sarkopenie ist zwar altersassoziiert, aber nicht rein altersbedingt“, sagt Gesundheitsexperte Daniel Schoon. Er und sein Kollege, der Sportökonom Daniel Schwarzenberger, verbinden praktische Erfahrung mit wissenschaftlicher Tiefe. Ihre Botschaft: Muskelabbau ist weder unausweichlich noch unumkehrbar. Aber man muss früh aktiv werden – und gezielt vorgehen.
Der Begriff Sarkopenie stammt aus dem Griechischen: sarx für Fleisch, penia für Verlust. Gemeint ist der fortschreitende Verlust von Muskelmasse und -funktion. Was nach einem Problem hochbetagter Menschen klingt, beginnt oft viel früher und bleibt meist lange unerkannt. „Viele denken, Sarkopenie beginnt mit 60 oder 70“, sagt Schoon. „Aber wer sich kaum bewegt und trainiert, verliert schon ab Mitte 20 messbar Muskulatur. Sarkopenie ist nicht allein altersbedingt, sondern vor allem abhängig vom Lebensstil.“
Auch Schwarzenberger betont: „Alltagsbewegung reicht nicht, um Muskeln zu erhalten. Muskeln brauchen echte Trainingsreize.“ Bleiben diese aus, bauen die Muskeln ab. Das gilt für Kinder, Erwachsene und Senioren gleichermaßen. Dabei geht es nicht um Waschbrettbäuche oder sportliche Bestleistungen, sondern um die Fundamente unseres Alltags: Stehen, Tragen, Gehen, Unabhängigkeit.
Sarkopenie ist primär das Resultat fehlender Belastung. Doch die Ursachen sind vielfältig. Denn neben Bewegungsmangel spielt auch die genetische Veranlagung eine Rolle, erklärt Schoon. „Auch Vorerkrankungen wie Prädiabetes oder Bluthochdruck, wie sie oft bei inaktiven Menschen auftreten, bedingen den Muskelabbau.“ Die gute Nachricht: All das ist beeinflussbar.
Regelmäßiges, gezieltes Training
Im Schnitt verliert ein inaktiver Erwachsener ab dem 25. Lebensjahr etwa ein Prozent Muskelmasse pro Jahr. Über Jahrzehnte summiert sich das – mit weitreichenden Folgen: erhöhte Sturzgefahr, Krankenhausaufenthalte, Verlust der Selbstständigkeit. „Am Ende sterben viele Menschen nicht an Krankheit, sondern an Entkräftung“, sagt Schoon. „Deshalb ist frühes Handeln so wichtig.“
Vollständig lässt sich Sarkopenie wohl nicht aufhalten. Muskelabbau ist ein natürlicher Alterungsprozess. Aber sein Verlauf lasse sich deutlich verlangsamen und teilweise sogar umkehren. „Das ist wie mit der Haut“, erklärt Schwarzenberger. „Falten lassen sich nicht verhindern, aber man kann die Haut pflegen. Bei Muskeln ist das genauso.“
Mit regelmäßigem, gezieltem Training könne man auch im höheren Alter Muskelmasse und -kraft aufbauen. „Mit konsequentem Training sind selbst mit 40 oder 50 Jahren rund 200 Gramm Muskelzuwachs pro Woche möglich“, sagt Schoon.
Das optimale Trainingspensum
In der Trainingswissenschaft wird regelmäßig auf eine Untersuchung aus den USA verwiesen. Dabei geht es um eine Studie von Bradley Schoenfeld, Professor für Sportwissenschaft am Lehman College in New York. Diese kommt zu folgendem Schluss: Vier bis 20 Wiederholungen pro Muskelgruppe, solange man die Sätze bis nah ans Muskelversagen ausführt. Dann wachsen die Muskeln in Armen, Beinen, Rücken und Brust.
Henning Wackerhage, Professor für Sportbiologie an der TU München, betont, dass man diese Varianz im Alter zu seinem Vorteil nutzen kann. „Wer jünger ist, kann schwerer und mit weniger Wiederholungen trainieren“, sagt Wackerhage. „Ältere Sportler, die mit schweren Widerständen Probleme haben oder verletzungsanfällig sind, sollten besser zehn bis 20 Wiederholungen mit weniger Gewicht absolvieren.“
Das Optimum für maximalen Muskelaufbau seien laut Literatur „zehn Sätze pro Woche pro Muskelgruppe“, sagt der Experte. Einsteiger trainieren am besten immer den ganzen Körper; ab drei Trainingstagen pro Woche ist eine Aufteilung nach Muskelgruppen sinnvoller. Einen sichtbaren Muskelaufbau können die meisten Menschen in drei bis vier Monaten schaffen.
Ernährung und Bewegung gleichberechtigt
Die Ernährung steht dabei gleichberechtigt neben der Bewegung und spielt bei der Muskelgesundheit eine zentrale Rolle. „Bei bestehendem Muskelabbau“, so Schoon, „empfiehlt die Wissenschaft etwa 1,2 bis 1,6 Gramm Eiweiß pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag.“
Es müsse nicht auf das Gramm genau sein, aber wer deutlich darunter bleibt – insbesondere im Alter – beschleunige den Abbau. Besonders effektiv sind leuzinreiche Lebensmittel wie Eier, Milchprodukte, Fisch oder mageres Fleisch. „Aber die Ernährung ist sehr individuell“, betont Schoon. „Wer etwa eine Nierenerkrankung hat, sollte das ärztlich abklären lassen.“
Doch wer nur viel Protein isst und nicht trainiert, hat nichts gewonnen. Dabei kommt es beim Muskeltraining häufig zu Missverständnissen. Etwa, dass Joggen oder Radfahren Muskelmasse aufbauen würden. Die klare Botschaft der Experten lautet: Das allein reicht nicht.
„Ausdauertraining ist gut fürs Herz“, sagt Schwarzenberger, „aber zu wenig für die Muskulatur.“ Empfohlen wird mindestens zwei- bis dreimal pro Woche gezieltes Krafttraining, im Idealfall mit freien Gewichten oder Geräten, die die großen Muskelgruppen ansprechen.
Muskelschwund ist ein zentraler Faktor bei Stürzen
„Entscheidend ist funktionelle Kraft“, betont Schoon. „Aufstehen, tragen, sich ins Auto setzen – das sind die Bewegungen, die im Alltag zählen.“ Selbst Hochbetagte profitieren davon. „Ich trainiere mit Über-90-Jährigen“, erzählt Schoon. „Wir reduzieren Sturzrisiken und stärken die Selbstständigkeit.“
Sarkopenie betrifft nicht nur das Individuum, sondern auch das Gesundheitssystem. „Viele Klinik-Wiederaufnahmen gehen auf Stürze durch Muskelschwäche zurück. Sarkopenie ist ein zentraler Faktor“, sagt Schwarzenberger.
Angesichts alternder Gesellschaften brauche es präventive Strategien: mehr Bewegungsangebote, gezielte Aufklärung, Integration von Krafttraining in die Gesundheitsvorsorge. „Es geht nicht nur darum, länger zu leben“, so Schwarzenberger. „Sondern besser“
Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, ein regelmäßiges Training aufrechtzuerhalten. Denn nachhaltige Verhaltensänderungen sind schwer. Die Lösung liegt jedoch in der Gewohnheit – nicht in der Motivation.
„Training muss wie Zähneputzen werden“, sagt Schwarzenberger. „Etwas, das wir automatisch machen. Nicht, weil wir müssen, sondern weil uns abends etwas fehlt, wenn wir es auslassen.“ Es brauche eine emotionale Verankerung. „Nicht aus Angst vor Schwäche, sondern aus Freude an der Stärke.“ Wer so in der Jugend Berge besteigen kann, wird auch im Alter noch die Treppen mit Leichtigkeit erklimmen – und das Marmeladenglas mit einem lockeren Handgriff ploppen lassen.
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